Was ist es, was uns Menschen in die Natur und in die Berge treibt? Wir begeben uns auf Spurensuche.
Die Art der Fortbewegung war einst ein klares Zeichen für den sozialen Stellenwert eines Menschen. Konnte sich einer ein Pferd oder gar eine Kutsche leisten, genoss er einen recht privilegierten Status in der Gesellschaft. Ganz im Gegensatz zu dem, den seine Beine tragen mussten, wollte er sich von A nach B fortbewegen. Der gehörte ganz offensichtlich zur Unterschicht: Das gemeine Fußvolk lief nicht aus freien Stücken, sondern weil es eben nicht anders ging. Erst als sich die industrielle Revolution und damit die Eisenbahn in Bewegung setzte, glich sich der Stellenwert des Zufußgehens klassenübergreifend bei Arm und Reich an. Doch manch weiser Zeitgenosse erkannte früh, worin der Zauber des Wanderns nur um des Wanderns willen liegt. So Goethe auf seiner Italienreise, die ihn lehrte: „Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen.“ Oder Jean-Jacques Rousseau, der konstatierte: „Wer reisen will, der muss zu Fuß gehen.“
Wander-Revival
Das Wandern wurde in den letzten Jahrzehnten zwar nicht neu erfunden, doch es ist definitiv deutlich populärer geworden. Es ist in der gesellschaftlichen Mitte angekommen. Outdoorkleidung hat den Einzug in die Modewelt gefunden, und nicht zuletzt Hape Kerkelings Bestseller über das Pilgern signalisierte: Wandern ist für jeden. Ob jung oder alt, sportlich oder nicht ganz so sportlich, ob Berg oder Flachland – jeder der will, kann!
Wer sich am Wochenende in Staus einreiht oder in übervolle Züge quetscht, mag die „gute alte Zeit“ heraufbeschwören, als man in Kniebundhosen, Karohemd und roten Strümpfen in die vermeintlich leeren Berge loszog… Was übrigens ganz und gar nicht bestätigt werden kann. Denn den Andrang in beliebte Ausflugsgebiete gab es auch schon vor dem großen Wander- Revival.
Worum geht es uns also heute, wenn wir wandern? Ist es die zünftige Brotzeit, der große Gipfelsturm oder das Selfie für Instagram? Ja, denn ein gutes Essen und der spätere Erlebnisbericht gehören sicher dazu. Aber sind es nicht auch die kleine Flucht aus dem Alltag, das Im-Einklang-Sein mit der Natur und vielleicht sogar die Suche nach dem Selbst?
Kleine Alltagsfluchten
Tatsächlich lassen die heutigen Massenwanderungen darauf schließen, dass „ein vermeintlicher Gegenpol zu dem erhofft wird, was die Alltagserfahrung prägt“, so der Kulturphilosoph Jens Badura. Der Gegenpol nämlich zu Lärm, Stress und Druck. Das bedingt sich allein schon durch die physischen Gegebenheiten beim Wandern: Man setzt einen Schritt nach dem anderen, bewegt sich langsam, aber linear vorwärts. Die Konzentration liegt auf dem Atmen und der körperlichen Anstrengung. Das Gedankenkarussell ist ausgeschaltet, den Alltag lässt man ganz automatisch hinter sich. Das Grün der Natur, die Aussicht bis zum Horizont und das Vogelzwitschern sind willkommene Unterstützter dabei. Beim Wandern geht man, um bei sich anzukommen. Und es funktioniert so einfach: Tagestouren und Ausflüge lassen sich ohne großen Aufwand organisieren. Und selbst (Groß-)Stadtgrenzen kann man relativ schnell hinter sich lassen – schon ist man im Grünen und kann losgehen.
VOLLE HÜTTEN – KEIN PHÄNOMEN DES NEUEN JAHRTAUSENDS
Der Cartoon des Zeichners Samivel stammt aus dem Rother Gesamtverzeichnis 1956/57
Weitwandern – mal so richtig weg
Was für eine Tagestour gilt, trifft erst recht für eine Mehrtagestour zu. Nicht ohne Grund sind Weitwanderungen in den letzten Jahren zu einem großen Trend geworden. Waren es vor ein paar Jahren vor allem die echten Outdoor-Freaks, packt heute eine breite Zielgruppe den Mehrtagesrucksack. Das Publikum und seine Ansprüche sind dabei sehr vielfältig: Die einen möchten leichten Schrittes dahinwandern, andere lieben die alpine Herausforderung. Beliebt sind auch Jakobswege – schon lange nicht mehr nur der Klassiker in Spanien, sondern auch unbekanntere Pfade in ganz Europa. Ob es nun der Pilgerweg, die Alpenüberquerung oder vielleicht die kleine Hüttentour am Wochenende ist – jedem einzelnen geht es um eine Auszeit vom Alltag. Und während des Gehens kann man zudem wunderbar über sich selbst nachdenken.
Wanderglück
Ob man nun auf dem ersehnten Gipfel steht oder in der Pilgerhauptstadt Santiago de Compostela ankommt, ob man einige Stunden bergauf oder tagelang geradeaus gelaufen ist: Das Glücksgefühl, es aus eigener Kraft geschafft zu haben, ist überwältigend. Ganz nebenbei trainiert das Wandern nicht nur den Geist, sondern auch den Körper – ein Effekt, über den sich jeder freut!
Kommentarfunktion deaktiviert